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Kairo, an einem Aprilmorgen im Jahre 1834. Auf einem der Plätze der von Sultan Mohammed Ali regierten Stadt beginnt man mit dem Aufbau des Marktes. Es ist bereits heiß. Die Markthändler packen ihr Obst und Gemüse, ihre Kleidung, ihre Stoffe aus. Die Kamelhändler bringen ihre Tiere herbei, die Frauen, schwarz verschleiert und von ihren Kindern umgeben, diskutieren, kaufen, sehen sich um.
Und in der Mitte dieses ganzen Aufruhrs: eine Gruppe von vier jungen Frauen, die auf dem Boden sitzen. Sie sind nicht verschleiert, ihre Kleidung ist bunt und von guter Qualität. Ihre Augen sind von Khol umrahmt, ihre Hände sind mit Henna bemalt und ihr aus Münzen gefertigter Schmuck klingelt bei jeder Bewegung. Auf einer Decke, die sie auf dem staubigen Boden ausgebreitet haben, liegen Brot und Früchte, die sie miteinander teilen. Sobald ein Mann vorbeikommt, rufen sie ihn aus voller Kehle an und erbitten von ihm etwas Geld gegen ein wenig Nahrung. Die meisten Angesprochenen halten nicht an, sondern beschleunigen eher ihren Gang, zum Vergnügen der jungen Frauen. Niemand möchte gerne in ihrer Gesellschaft gesehen werden, denn es handelt sich um ghawazee, Straßentänzerinnen. In der islamischen Kultur des 19. Jahrhunderts gibt es keine Gruppe von niedrigerem sozialen Rang als die Tänzerinnen. Und diese da, mit ihren lauten Stimmen und fremdartigen Gesichtszügen, stehen noch eine Stufe niedriger.
Nach ihrem Mahl erheben sich die ghawazee unter lautem Trubel und Gelächter und entnehmen aus einer kleinen Tasche vier Metallzimbeln, die sie an ihren Fingern befestigen. Dann nähern sie sich einer Gruppe von Musikern, die noch damit beschäftigt sind, ihre Trommelfelle zu spannen und ihre Flöten zu säubern.
Die Schaulustigen fangen an, sich um die Tänzerinnen und Musiker zu versammeln; bald wird die Darbietung beginnen. Die Tänzerinnen entfalten einen Teppich, um ihre Füße vor den Steinen zu schützen. Zu den ersten Klängen der Trommel beginnen die vier ghawazee, dicht aneinander gedrängt, ihren Tanz. Sie schreiten langsam, die Arme über den Kopf erhoben, voran und halten manchmal inne, um weite Hüftkreise zu vollführen.
Der Rhythmus wird schneller, und die Tänzerinnen beginnen, ihre Zimbeln zu schlagen. Mit den Füßen wie festgewurzelt lassen die ghawazee ihre Hüften zittern, vibrieren, rütteln, in alle Richtungen, immer schneller, immer stärker. Das Geklimper ihres Schmucks mischt sich mit dem Klang der Zimbeln, der Schweiß perlt ihnen von der Stirn. Das Publikum jubelt und applaudiert. Eine der vier löst sich nun von der Gruppe und nähert sich den Zuschauern. In einer plötzlichen Bewegung beugt sie sich nach hinten und bildet mit ihrem Körper eine Brücke. Manche Zuschauer folgen dieser Einladung und heften einige Münzen an die schweißnasse Stirn der jungen Frau. Diese richtet sich schnell wieder auf und wiederholt ihr Kunststück ein paar Schritte weiter vor dem Publikum. Mit einer schnellen Bewegung läßt sie die Piaster in ihr Dekolleté gleiten und nimmt dann wieder den Tanz mit den anderen Frauen auf. Die Musiker beschleunigen nochmals ihr Tempo, die ghawazee sind wie in Trance und das Publikum klatscht im Rhythmus der Musik. Ein letzter Takt, und die Musik endet plötzlich. Bevor das Publikum sich auflösen kann, beginnen die ghawazee, scheinbar ohne jede Erschöpfung, ihr nächstes Stück.
Am Nachmittag kehren sie zu ihrem Lager zurück und nähen die am Morgen gesammelten Münzen auf ihre Turbane und die Seidenbänder, die sie später in ihre Haare einflechten wie die ägyptischen Frauen des 19. Jahrhunderts.
Am Abend werden die vier ghawazee, wie jeden Tag, noch lange Vorstellungen auf den Hochzeiten und Festen der niemals schlafenden Stadt geben.
Es ist die Ruhe vor dem Sturm. In einigen Monaten wird der neue Sultan, von den in seinen Augen ungehörigen Tänzen erregt, die ghawazee ins Visier nehmen.
Noch profitieren die ghawazee allerdings von ihrer Freiheit. Edward Lane, ein englischer Reisender, beschreibt sie 1833 als auffallend hübsch und zählt sie zu den schönsten Frauen Ägyptens. Sie tragen dasselbe wie die Ägypterinnen der Mittelschicht; ihre Kleidung ist reich ausgestattet, bunt, der Stoff von guter Qualität. Die ghawazee tragen Pluderhosen (shintiyan) und eine weite, dekolletierte Bluse (tob), beide aus durchsichtigem, farbigem Musselin. Darüber tragen sie eine lange Weste namens yelek, die manchmal bis unter die Brust ausgeschnitten und an
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Ägyptische Frau mit safa-Haartracht (aus Edward Lane, Manners and Customs of Modern Egyptians) |
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der Taille verengt ist und bis zu den Knöcheln reicht. Andere tragen eine kürzere Weste ( anteree). Um die Hüften binden sie sich ein dreieckig gefaltetes Tuch, an das verschiedenste Anhänger geheftet werden, die sie hier und da bekommen oder von ihren Kunden als Geschenke erhalten. Auf dem Kopf tragen sie einen tarbouch, eine Art rote Kappe mit zugespitzer Oberseite, um die ein weißes oder farbiges Tuch geschlungen ist. An ihren Turban heften sie allen Schmuck, den sie nicht an Händen, Armen und Füßen tragen, und Münzen, die sie bei ihren Darbietungen erhalten. Für einige von ihnen ist das ihr gesamter Reichtum.
Ihre Handflächen sind ebenso wie ihre Füße und manchmal auch das Gesicht mit Henna bemalt. Die Augen sind mit Khol umrahmt; manche tragen Nasenringe. Die Haare sind zu safa geflochten, einer typischen Haartracht der Ägypterinnen des 19. Jahrhunderts. Die Haare sind dabei in elf bis zu 25 Stränge aufgeteilt (immer eine ungerade Zahl), die jeweils mit drei Streifen schwarzer Seide verflochten werden. Diese Streifen sind wiederum mit Münzen und Anhängern verziert. Vor den Ohren bleibt eine gelockte Strähne frei - Teil des ägyptischen Schönheitsideals im 19. Jahrhundert.
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Beispiele für Henna-Tattoos (Edward Lane, Manners and Customs of Modern Egyptians) :
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Die Herkunft dieser ghawazee ("Eroberer der Herzen"; die Einzahl lautet ghaziya) ist unsicher. Die meisten von ihnen ordnen sich dem Stamm der Nawar zu und sprechen in der Tat eine nicht-arabische Sprache. Auch ihre Gesichtszüge verraten eine andere Herkunft. Die Nawar sollen ein Roma-Stamm sein, der Afghanistan und die Türkei durchwandert hat, ehe er in Ägypten ankam. Allerdings besetzte die Türkei seit dem 16. Jahrhundert Ägypten, und es ist auch möglich, daß diese Frauen aus der Türkei gekommen sind. Ihre Musik und ihr Tanz zeigen Charakteristika der Zigeuner (Beschleunigung des Tempos, Gebrauch eines Saiteninstruments), was allerdings nicht heißt, daß alle ghawazee Zigeunerinnen waren. Es scheint außerdem, daß auch mancherlei Frauen wie Witwen oder Ausgestoßene, die außer dem Tanz keine Einkommensquelle hatten, Straßentänzerinnen geworden sind.
Ihre Musik ist stark von der arabischen Musik geprägt. Die ghawazee verwenden die bekannten Rhythmen wie masmoudi saghir, masmoudi kabir, später auch saidi. Ihre Musiker spielen die tabla (eine mit Fischhaut bespannte Trommel aus Ton), das riqq (Tamburin), die mizmar (eine der Oboe verwandte Flöte), die daf (eine weitere Trommel), aber vor allem die rababa, eine Art primitive Geige mit einer oder zwei Saiten. Sie selbst begleiten sich fast immer mit Zimbeln aus Metall. Die Musik ist regelmäßig, ohne besonders hervorgehobene Akzente, oft mit Gesangsbegleitung entweder durch die Tänzerinnen oder eine andere Person.
Ihr Tanz ist erdig, ohne viele raumgreifende Schritte bis auf einige Ortswechsel zwischen den Tänzerinnen, die fast immer als Dreier- oder Vierergruppe auftreten. Ihre Schultern und der gesamte Oberkörper bleiben die meiste Zeit in Ruhe, von einigen seltenen Wellen- und Schüttelbewegungen abgesehen. Ihre Arme bleiben ausgestreckt oder über der Brust gekreuzt. Im Gegensatz dazu bewegen sich ihre Hüften ohne Pause in Vibration - die ghawazee kennen alle Formen der Vibration parallel zur Erde. Die ghawazee begleiten oft die Musik durch Aufstampfen mit den Füßen (eine Bewegung, die uns in allen Zigeunertänzen - wie zum Beispiel im Flamenco als zapateado - wieder begegnet). Ferner gibt es verschiedene Arten kleiner Sprünge und eine typische horizontale Gleitbewegung des Kopfes. Manchmal tanzen die ghawazee auch am Boden, aber dabei handelt es sich meistens um kleine akrobatische Kunststücke wie das Zurückbeugen in eine Brückenstellung, um etwas mit dem Mund aufzuheben oder Geld auf die Stirn geklebt zu bekommen.
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Hasne beim Tanz vor albanischen Soldaten, von Louis-Léon Gérôme:
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"Sie wartete auf keine Aufforderung. Bei den ersten Klängen von Darbukka und Geige begab sich Hasne in unsere Mitte. Angeregt durch das große Publikum und das dabei in Aussicht stehende fürstliche Trinkgeld, war sie bereit, uns das Beste ihrer Tanzkunst zu zeigen. Ihre Augen begannen zu leuchten und sie begann auf ein Signal hin zu tanzen. Mit langsamen und gemessenen Bewegungen verweilte die Tänzerin zunächst an ihrem Platz, als sei sie am Boden festgenagelt. Dann begann sie, zum allmählich sich steigernden Rhythmus der Musik, mit kaum wahrnehmbaren Schritten die unglaublichen Verrenkungen ihres Körpers zu begleiten, eine Art fast krampfartigen Verschiebens der Hüften [...]. Die Musiker erhöhten das Tempo und die Bewegungen der Tänzerin, ihre Verrenkungen, jede einzelne Arm- und Kopfbewegung wurden wilder, fiebriger." (Paul Lenoir 1872)
Die ghawazee wurden zu allen Arten von Festen (Hochzeiten, Beschneidungen usw.) eingeladen und tanzten manchmal im Haus, manchmal vor dem Tor. In den auf ihre Ehre bedachten Harems waren sie nicht willkommen. Sie tanzten auch vor Ausländern, die ihre Künste mit viel Geld entlohnten. Manchmal erhielten sie ausnahmsweise die Erlaubnis, in einem Haremshof unter den Fenstern der Frauen aufzutreten. Auch beim Tanz auf der Straße plazierten sie sich oft unter den Gitterfenstern, damit die Haremsfrauen sie durch ihre Gucklöcher beobachten konnten.
Europäische Reisende berichten wiederholt von einem sogenannten "Bienentanz". Den Beschreibungen nach handelt es sich um einen Tanz, bei dem die Tänzerin vorgibt, eine Biene habe sich in ihrer Kleidung verfangen - um diese dann Stück für Stück bis zur völligen Nacktheit auszuziehen. Edward Lane berichtet auch von Festen, bei denen die ghawazee - angeregt durch den Alkohol, denen man ihnen im Überfluß anbot - nur ihre durchsichtige Unterkleidung trugen.
Die Verbindung zwischen den ghawazee und der Prostitution ist sehr schwierig zu beurteilen. Sehr wahrscheinlich verkauften einige ghawazee ihren Körper, um mehr Geld zu verdienen, aber bis zur Ankunft der napoleonischen Soldaten war die Prostitution nicht organisiert. Die Franzosen sind die Ersten, die die ghawazee in Bordellen einpferchen. Deren Wirkung wird so groß, daß der Kaiser eines Tages die 400 dort angesiedelten Frauen köpfen und ihre Leichen in den Nil werfen läßt. Allerdings faßt das Bordellwesen Fuß in Ägypten, und in den zahlreich entstehenden Freudenhäusern treten die ghawazee vor den Fremden auf, bevor sie sich ihnen für Geld hingeben. Die Betreiberinnen dieser Bordelle sind oft selbst ghawazee, die mit der Zuhälterei reich werden.
Aber wir befinden uns im Jahre 1834, und die Lage verschlechtert sich. Der neue Sultan Mohammed Ali, von dem eine Neigung für Männer bekannt ist, erklärt die ghawazee für unanständig und beschließt, sie loszuwerden. Er befiehlt die Verbannung aller ghawazee in den Süden Ägyptens. Die Frauen lassen sich fast alle in der Stadt Esna nieder. Das Tanzen, ob in der Straße oder in Bordellen, wird ihnen unter Androhung schwerer körperlicher Strafen verboten. Allerdings tauchen mehr und mehr europäische Reisende - wie Gustave Flaubert - auf, und die ghawazee tanzen weiterhin im Verborgenen in den Bordellen, wobei sie mehr und mehr ausschließlich von der Prostitution leben.
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Postkarte, Anfang 20. Jh.
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1866 wird der Bann aufgehoben und manche ghawazee kehren nach Kairo zurück; andere bleiben in Südägypten. Aber ihre Kunst hat unter 32 Jahren der Illegalität stark gelitten, und sie sind zum Großteil reine Prostituierte geworden.
Anfang des 20. Jahrhunderts treffen wir sie tanzend und singend in den Cafés wieder, oder auf den Nilkreuzfahrtschiffen nahe Luxor. Ihre Tracht hat sich verändert: sie tragen nun eine kleine, kurze Weste und einen Rock, der nur bis zu den Knien reicht und mit Bleigewichten beschwert ist, um sich beim Tanz besser zu öffnen. Es handelt sich um eine neue Generation von ghawazee, die aus Syrien gekommen sind. Es werden ghawazee sein, die in den USA anläßlich der Weltausstellung in Chicago für Empörung sorgen, aber auch ghawazee, die die Orient-Begeisterung in der Kinowelt Hollywoods auslösen.
1950 sind die ghawazee fast verschwunden und werden nun durch ägyptische Tänzerinnen aus dem Volk ersetzt, das der Illegalität überdrüssig ist. Heute gibt es nur noch eine aktive ghaziya, Khairyya Maazin. Von ihren Schwestern, mit denen sie noch in den 70er Jahren auftrat, ist eine gestorben, die andere hat das "anständige" Leben einer muslimischen Frau angenommen.
Quellen:
Edward Lane, Manners and Customs of Modern Egyptians
Gustave Flaubert, Voyage en Orient
Dietlinde Karkutli, Das Bauchtanzbuch
Wendy Buenaventura, Die Schlange und die Sphinx
www.bellydancemuseum.com
The Romany Trail Part I: Through Africa (Film)
Dances of Egypt (Film von Aisha Ali)
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